Die tschechische Philosophie seit 1918
Název
Die tschechische Philosophie seit 1918
Česká filosofie od roku 1918. Přel. F. Karfík. In: Češi I (SS-12/Češi-I), Praha 2006, str. 661–680 (v. 2006/11).
Autor
Jan Patočka
Jazyk
de,cs
Datum vzniku
1932
Původní médium
Identifikátor
1932/1
Typ
Publikováno
Češi I (SS-12/Češi-I), Praha 2006, str. 661–680 (v. 2006/11).
Popis
Přepis
+
DIE TSCHECHISCHE PHILOSOPHIE SEIT 1918

Es geht in diesem Aufsatz nicht um eine erschöpfende Analyse alles dessen, was seit der…
DIE TSCHECHISCHE PHILOSOPHIE SEIT 1918

Es geht in diesem Aufsatz nicht um eine erschöpfende Analyse alles dessen, was seit der Wiedererrichtung des tschechoslovakischen Staates auf dem Gebiet der Philosophie geleistet worden ist. Das Ziel ist bescheiden: es gilt zu zeigen, welche Tendenzen das philosophische Schaffen in dem gegebenen Zeitraum beherrschen und wie die sich in den einzelnen Persönlichkeiten verkörpern. Vor allem werden jene Denker in den Vordergrund gestellt, die erst in dieser Epoche ihrer Entwicklung auf den Höhepunkt geführt,, oder neue Richtungen eingeschlagen haben. Dabei kann, wie bei jeder derartigen Abgrenzung von Epochen nur eine Abkürzung gegeben werden. So steht ein grosser Teil der Produktion unter dem überwältigenden Eindruck Masaryks, dessen philosophisches Schaffen in seinen Hauptphasen der Vorkriegszeit angehört. Er war es, der den Positivismus in das tschechische Denken eingeführt und ihm zugleich einen Mangel an erkenntnistheoretischer Grundlegung zum Vorwurf gemacht hat, womit er zugleich den Fragestellungen der neuesten tschechischen Philosophie den Weg vorgezeichnet hatte. Denn gerade durch die Krise des Positivismus, den man als die nationale tschechische Philosophie bezeichnet hatte, und durch das Suchen nach neuen Richtungslinien ist die Epoche der philosophischen Bemühungen seit 1918 gekennzeichnet.
Wie Em. Rádl noch 1926 festgestellt hat, war der von Prof. František Krejčí (geb. 1858) vertretene Positivismus bis unlängst die einflussreichste Philosophie. "Krejčí ist der erste tschechische Philosoph, der sich hinter ein gegebenes philosophisches System gestellt und es sein ganzes Leben lang verteidigt hat" (Rádl in ČM1, 1928). Krejčí ist der eigentliche Urheber der tschechischen wissenschaftlichen Psychologie; unter seinem Einfluss wurden die philosophischen Fragen lange Zeit psychologisch behandelt. Krejčí hat den Versuch eines Systems der Psychologie und des Psychologismus auf evolutionistischer Grundlage geliefert. Nachdrücklich tritt das in die Erscheinung in seinem Hauptwerk in dem behandelten Zeitraum, in seiner "Positiven Ethik als Sittenlehre auf natürlicher Grundlage" (Prag, 1922). Die sittliche Verpflichtung wird darin psychologisch und evolutionistisch gedeutet, die Begriffe der absoluten Verpflichtung und Freiheit werden folgerichtig nicht anerkannt. Sittlichkeit ist das richtig begriffene eigene Interesse, das Bewusstsein der Bedingungen eines zufriedenen Lebens. Eine spezifisch ethische Komponente im Gefüge der menschlichen Persönlichkeit gibt es nicht. Die ethische Norm besagt, dass das Individuum der eigenen Überzeugung gemäss handeln solle. Die Norm ist aber nichts anderes als eine imperative Äusserung des Gesetzes, nach dem der nach Glückseligketit strebende Mensch wirklich handelt. Es gibt keine Tugend ausser der Pflicht, und diese lässt sich auf das Gefühl der Verpflichtung zurückführen, das eine Begleitung des Bewusstseins von den Folgen der Handlungen darstellt. Diese sehr einfachen, typisch positivistischen Prinzipien, vertritt im wesentlichen auch M. Schick in seinen "Fragen der Ethik". Neben diesem Werk hat Krejčí den sechsten und letzten Teil seiner "Psychologie" (Prag 1928) veröffentlicht, in dem er seine Auffassung des Psychischen als einer bewussten Reaktion des Organismus, einer Dreidimensionalität des seelischen Geschehens u. a. gegen die psychologischen Prinzipien der neueren Systeme verteidigt. Eine polemisch gerichtete Diskussion ist zum grössten Teil auch die Schrift "Die Philosophie der letzten Vorkriegsjahre" (2. Aufl., Prag 1930), in der Krejčí seinen evolutionistischen Positivismus gegen die idealistischen Richtungen von James und Bergson bis Husserl und Driesch verteidigt. Allenthalben tritt Krejšís zähes Streben zutage, seinen Standpunkt, der doch nicht ganz von der Metaphysik frei ist, philosophisch zu begründen. Er wird bis in die letzte Zeit hinein nicht müde, seine Haltung gegenüber den gleichzeitigen einheimischen und ausländischen philosophischen Erscheinungen in der schon genannten, von ihm vor 27 Jahren mitgegründeten Zeitschrift "Česká Mysl" darzulegen. (Vgl. den Aufsatz "Parallelistische Phänomenologie", 1931). Dennoch ist klar zu erkennen, dass ein Positivismus dieser Prägung nicht mehr genügt. Wohl kein einziger der jüngeren Philosophen hat das Bedürfnis, auf der Grundsätzen, besonders an dem psychophysischen Parallelismus fest, aber beide ergänzen diese Grundsätze durch Methoden, die von anderwärts her übernommen sind. Die "Positive Ethik" hat in den Kreisen der Fachphilosophen keinen Eindruck eines Erfolges gemacht. (Vgl. die Urteile von Vodseďálek in dem Artikel "Hauptströmungen der zeitgenössischen tschechischen Philosophie in der "Přítomnost", 1927, und die Aufsätze von J. B. Kozák, F. Fajfr, Zd. Smetáček in der Krejčífestschrift, 1928 und N. Losskij in RF 1929.)
Gleichzeitig mit Krejčís Buch ist Prof. In. A. Bláhas (geb. 1879) Werk "Philosophie der Sittlichkeit" (Brünn, 1922) erschienen. Auch sie ist im Grunde positivistisch, versucht aber einen weiteren Ausblick zu gewinnen. Gegenüber dem Psychologismus Krejčís weist sie auf das gesellschaftliche Bedingtsein des Sittlichen hin, gegenüber dem Naturalismus betont sie die geistige Aktivität, die ohne Unterlass neue und auch sittliche Werte schafft. Bláha ist bewandert in der französischen Philosophie und erinnert mit gewissen Zügen an Gedankengänge Brunschvicgs. Bláhas Standpunkt ist bei weitem nicht so bestimmt und streng, wie der Krejčís. Bei ihm wird die allgemeine Krise des Positivismus deutlich spürbar. Als Soziologe gründet Bláha seine Theorien auf den naturalistischen Monismus, der auch dem Positivismus Krejčís zugrundeliegt. Das gleiche gilt von Prof. J. Tvrdý (geb. 1877), der vornehmlich auf den Gebieten der Geschichte der Philosophie und der Erkenntnistheorie arbeitet. Weiter gehört dem Kreis der Positivisten Prof. J. Král (geb. 1882) an, ein gelehrter und methodisch vorgehender Historiker der Philosophie und Soziologe, der seine umfassende Tätigkeit insbesondere auf die Herbartische Soziologie, die Erforschung des Lebenswerkes des Gründers der tschechischen Pädagogik G. A. Lindners (1828 - ) und die Vergangenheit der tschechischen philosophischen Disziplinen überhaupt konzentriert hat.
Die Krise des Positivismus erscheint zugleich als Krise des systematischen philosophischen Denkens. Die Form des philosophischen Systems hat an Geltung eingebüsst. An den Systemen wird die unzulängliche Vertiefung der einzelnen Fragen bemängelt. Die unwirksame Theorie wird mit der Rolle, die die Philosophie im Leben zu spielen hat, konfrontiert. Darin ist deutlich der Einfluss Masaryks zu erkennen und noch mehr die Art, wie seine nächsten Anhänger seine Lehren begriffen haben. Masaryks "Weltrevolution", die Synthese seiner Arbeit in Leben und Philosophie, ist als grossartiges und typisches Beispiel lebenhaltigen Denkens aufzufassen, das in einer Zeit neuer, grosser, sowohl sittlicher, als auch intellektueller Aufgaben dem allgemeinen Bedürfnis entspricht.
Die Hauptvertreter dieser Richtung sind J. B. Kozák und Emanuel Rádl. Prof. J. B. Kozák (geb. 1888), ist von der Bibelkritik der liberalen Theologie als wissenschaftliche Metaphysik und die positive Wissenschaft versöhnt werden könnten, wobei er Motive des Pragmatismus, des Positivismus und der neuen deutschen Philosophie bearbeitet. So kommt es zu der schmerzlicher Spannung eines Kampfes zwischen der Metaphysik der tschechischen Positivisten, die bei Kozák namentlich in der Studie "Ökonomisierung der Lebensfunktionen" (Nové Athenaeum, 1921) durchschimmert und dem Theismus. Kozák zeigt, dass die Probleme der Wahrheit und der sittlichen Verpflichtung notwendig eine transzendental gerichtete Weltanschauung voraussetzen. Dort ist die Grenze des Wissens gezogen - der Szientismus, der die methodologischen Prinzipien und die Ergebnisse der Wissenschaft für die letzte metaphysische Wirklichkeit hält, ist unwahr ("Essay über Wissenschaft und Leben", Prag 1924). Über die transzendentale Gesetzlichkeit im Bereich des Sittlichen wissen wir freilich, dass sie uns persönlich Pflichten auferlegt. Ist dadurch der Theimus auch nicht begründet, so verliert dennoch die Zuversicht dem Leben gegenüber, von der jener unabtrennbar ist, durchaus nicht ihre Berechtigung. ("Der heutige Stand der Ethik", Prag, 1930.) Offenbar ist Kozák vor allem an den sittlichen Fragen gelegen. Seine Vorträge erörtern die sittliche Erziehung, auch im vorschulpflichtigen Alter, die Eudaimonie, die sittlichen Aufgaben der Frau. ("Im Kampf um die geistigen Werte", Prag 1930.) Die Bedeutung der Gestalt Christi im Leben der Gegenwart behandelt eine besondere Schrift "Jesus in Glauben und Skepsis" (Prag 1930).
Neben Masaryk hat Prof. Em. Rádl (geb. 1873) den stärksten Einfluss auf Kozák ausgeübt. Der nachdrückliche und bewusste Widerspruch gegen den Positivismus ist bei Rádl geradezu Mittelpunkt neuer Impulse in Denken und Leben geworden. Seit seinen ersten biologischen und philosophischen Arbeiten hat sich Rádl zum Vitalismus bekannt. Die letzten Kapitel seines bekannten Werkes "Geschichte der biologischen Theorien" (Leipzig 1909), weisen den Verfall des Darwinismus auf und stellen sich mit offenkundiger Sympathie auf die Seite der Lehren Drieschs, die darauf ausgingen, die Biologie als selbständige Wissenschaft zu begründen. Sogar das Erkennen hat Rádl damals biologisch aufgefasst: eine bestimmte Wissenschaft ist ebenso persönliche Eigenschaft des Menschen wie sein Gesicht oder der Bau des Knochengerüstes. Für die Wahrheit ist entscheidend, dass sie der echte Ausdruck tiefster persönlicher Überzeugung ist, in der uns nichts beirrt, so dass unsere Wissenschaft und mit ihr unsere Wahrheit Ausdruck der a priori gegebenen Anlage ist, die ihre Lebenserfahrung mit allen Traditionen nach ihrer Art formt. Man hat für diese Theorie, die von dem Überzeugtsein ausgeht, die Bezeichnung "logischer Expressionismus" geprägt, die für die ganze Erkenntnislehre Rádls eher zutrifft, als die Etikette eines "intuitiven Realismus", die ihm manchmal angeheftet worden ist. Man findet freilich besonders beim jungen Rádl intuitivistische Neigungen: die Bewunderung für Parazelsus, für den russischen Realismus, Betrachtungen über realistisches Erkennen als Verfliessen von Subjekt und Objekt ("Wissenschaft und philosophische Erwägungen", Prag 1914). Daneben aber findet man eine von Rádl nie aufbgegebene Konzeprion der Wissenschaft: Grund der Wissenschaft , wichtiger als der logische Ausdruck, Begriff, Beweis, sind die Anschauung, das Ding. Die Wissenschaft handelt von Dingen, nicht von Begriffen. Die intuitivistischen Motive sind für Rádl keineswegs spezifisch. Das Erkennen als Kontemplation genügt ihm nicht. Die Wahrheit muss in der Welt wirken, sie ist für diese Welt bestimmt eben als Ausdruck der tiefsten Schicht des Menschlichen. Mit fast übertriebenem Nachdruck formuliert das Rádl in senem Buch "Romantische Wissenschaft" (Prag, 1918), in dem er "mit dem Romantismus abrechnet". Der deutsche Idealismus hatte Rádl von der Ferne angelockt, bei einem näheren Studium stiess er ihn ab. Nur bei Herder, Goethe und Schelling gand er die natürliche, biolobische Weltanschauung, deren Fährten er in seiner "Geschichte der biologischen Theorien" gefolgt war. Der deutsche Idealismus besonders Kants Rationalismus, erscheint ihm gewaltsam, unnatürlich, "er teilt dei Welt in das Reich des Teufels und das Reich Gottes", er verachtet diese Welt, der gegenüber alles erlaubt ist; er reisst Wissenschaft und Philosophie voneinander. "Die deutschen Idealisten spüren nicht, dass die Wahrheit gleichzeitig richtig, sittlich und fromm ist" und fliehen daher in die reine Theorie, entfernen sich vom Leben. Ihre Wissenschaft und ihr Leben stimmen nicht überein, ja, grundsätzliche Entfremdung der Wissenschaft vom Leben, die bei ihnen in der Theorie gefordert wird, kann zur Gefahr für das Leben werden, ist unverantwortlich, unmoralisch. Es ist das Wort gefallen: die Intelligenz muss in die Praxis eintreten! Die Wahrheit muss nicht nur erlebt, sondern auch verwirklicht werden. Idealismus ist der durch Taten bezeugte Glaube, dass die Wahrheit siegt; das Reich Gottes ist auch in dieser Welt. Der moderne Idealismus wird sich dem Positivismus, Pragmatismus, Utilitarismus, sogar dem Materialismus zuneigen ("Demokratie und Wissenschaft", Prag 1919). Wissenschaft und Demokratie haben ein gleiches Grundprinzip: die Zuversicht zum Menschen und seiner Vernunft. Siet dieser Zeit wächst bei Rádl die Bedeutung der Vernunft und der Planmässigkeit der Methode, wie die Broschüre "Über unsere jetzige Philosophie" vom Jahre 1922 zeigt, in dem er seine Wandlung (unter dem Eindruck des Krieges, vornehmlich der russischen Ereignisse) rechtfertigt. Bis zum Kriege hatte Rádl der landläufigen, positivistischen Wissenschaft, darin in Übereinstimmung mit der allgemeinen Haltung der Zeit, einen Irrationalismus, Realismus, ja Mystizismus gegenübergestellt. Nun soll der Positivismus durch die Vernunft, nicht gegen sie, überwunden werden. Rádl gibt seine frühere Theorie nicht ganz auf, aber er vertieft sie und ist bemüht, ein neues Motiv hineinzutragen. Das programmatische Denken wird über das "instinktive" gestellt. In der Philosophie der Wissenschaft ist die Hauptsache nicht die natürliche Äusserung der individuellen Begabung, sondern die selbstbewusste Zucht und die methodische Ordnung der Arbeit.
Aber der überrationale, individualistische Standpunkt ist nicht verlassen: die Wissenschaft ist nicht Selbstzweck, sie ist eine Angelegenheit lebender Menschen, die sie schaffen, intellektuell und moralisch für sie bürgen. Unter Wahrhaftigkeit verstand Rádl früher einen intimen Kontakt mit den Dingen; jetzt ist es nicht mehr blosser Kontakt, sondern wir gehorchen einer inneren Stimme, die uns heisst, die Vernunft zu benützen und ihr zu glauben. Die Vernunft benützen bedeutet dann nicht nur, sich dessen bewusst zu werden, was in der Natur vorgeht - so möchte der Positivismus gern die Intelligenz erklären, seinem Grundsatze getreu, alles, was existiert, als einfache eder zusammengesetzte Tatsächlichkeit aufzufassen. Vernünftig sein, bedeutet über die Natur, die Welt urteilen, also sich über die Natur erheben; das Denken ist praktisch, und wenn wir Prinzipien, die nicht existieren, aber gelten, benützen (wie Begriffe, Urteile, logische Grundsätze), so bekennen wir unsere Überzeugung, dass man die Wahrheit zur Geltung bringen muss: die Wahrheit soll gelten. Logik und Ethik bedeuten in der Hierarchie der Wirklichkeiten (das Anorganische, das Reich der natürlichen Zwecke, das Seelenleben, das Geistige), etwas vollständig Neues, "sie kommen aus anderen Welten, als diejenigen sind, wo lediglich die Physik und Chemie gelten" ("Moderne Wissenschaft", Prag 1926). Das eben genannte Buch zeigt, dass Rádl neue, höhere Probleme in Angriff nimmt, als bisher. Sein Interesse konzentriert sich nun auf das Problem der Religion. Früher hatte sich Rádl um die Lösung der Frage bemüht, wie die moderne, allen abstrakte Wissenschaft zu reformieren sei. Nun fragt er, was dem modernen Leben überhaupt fehle. Dem modernen Menschen ist die Aussenwelt, die Natur, zur ersten und letzten Tatsache geworden. Diese einseitige Orientierung hindert uns daran, das wichtigste und höchste Faktum unseres urteilenden Gewissens seiner wirklichen Bedeutung gemäss zu würdigen. Über dem wirklichen Universum erhebt sich die geistige Welt, in deren Bereich auch die Wahrheitsnormen fallen. Die Aufgabe der Christen im heutigen Leben ist, zu bekunden, dass das Geistige seine Bedeutung nicht verloren hat, "dass in ihm das eigentliche Schicksal des Menschen entschieden wird." Rádl unternimmt die wenig populäre Arbeit, der Öffentlichkeit zu zeigen, was das relitiöse Leben in diesem Sinne bedeutet, wie es sich mit einem "gesunden Objektivismus" verträgt, wie es tätig bleibt - obwohl und eben deshalb, weil ihm diese Welt nicht die letzte Wirklichkeit bedeutet. Die Schrigt "Religion und Politik", (Prag 1921), ist der erste Schritt auf diesem Wege. Kein reliriöser Dilettantismus, keine Sentimentalität, keine Rückkehr zum Katholozismus, sondern Gewissen und Wahrheit. Er will eine vernünftige, praktische Religion, obwohl er die Tradition nicht nur als organisatorische, sondern auch als sittlich-religiöse Macht hoch bewertet. Rádl stösst dadurch später auf die schwierigsten, verwickeltsten Fragen (Wissen - Glauben, Philosophie - Theologie, Religion - Offenbarung - Dogma - Kirche usw.), deren Lösung er noch nicht gegeben hat. Auch die Kritik des östlichen Mystizismus und Quietismus in der Schrift "Osten und Westen", (Prag 1925) soll das christliche Selbstbewusstsein heben. Das Christentum wird hier als die einzige moralische, personalistische, tätige Religion und als die wahre Grundlage der westlichen Zivilisation dargestellt. Die kritische Tätigkeit, welche er von seinem Standpunkte aus entwickelt, ist überhaupt sehr bedeutsam.
In Masaryk erblickt Rádl das Muster eines Philosophen, der sich mit lebendigen Fragen befasst und kritisch ins Leben eingreift. Von ihm hat er auch manche Argumente gegen den Positivismus übernommen (z. B. der Positivismus will die Tatsachen nur passiv betrachten, er beurteilt sie nicht). Ausser Masaryk sind es besonders Driesch und der Neukantianismus, die Rádl beeinglusst haben. Im Religiösen hat er von Prof. I. L. Hromádka (geb. 1889), dem protestantischen Theologen, welcher in der ganzen Religion nichts anderes sieht, als Aberglauben und Unaufrichtigkeit, ist vom geistigen Gesichtspunkte aus sehr hoch einzuschätzen. Er ist aber sicher zu weit gegangen, als er zu beweisen unternahm, dass die Theologie der mythischen Denkart ferner liege als alle Wissenschaften mit der Philosophie an der Spitze ("Masaryk", Prag 1930); diese These hat auch den heftigsten Widerstand hervorgerufen (Smetáček, Kozák, Rádl, Hromádka, Prag 1931, 61 ff.).
Obwohl Rádl kein streng systematischer Philosoph ist, obwohl er vielleicht die wichtigsten seiner Motive in ein gewisses Halbdunkel gehüllt hat2, muss man zugeben, dass mit ihm die Reaktion gegen den Positivismus ihren Gipfel erreicht hat. Er baut keine Metaphysik der Erkenntnis auf, weil ihm die Überzeugung von der absoluten Wahrhait genügt, weil er auf das Leben wirken, nicht die gedanklichen Konstruktionen vermehren will. Keiner von den übrigen tschechischen Philosophen, die den Positivismus bekämpfen hat eine so lebendige und originelle Problematik entwickelt. Sie nehmen von den abstrakten Problemen, von anderen philosophischen Autoren ihren Ausgang, sie übertragen die ganze Mannigfaltigkeit der ausländischen Tendenzen, soweit sie imstande sind, sie zu verfolgen und Anteil daran zu nehmen.
Dem ursprünglichen Intuitivismus Rádls nähert sich mit einigen Zügen Prof. Vladimir Hoppe (1882-1931), dessen Interesse aber, mit Rádls Teilnahme an Wissenschaft und Leben verglichen, mehr metaphysisch, theoretisch, einseitig ist. Auch nach Hoppe stehen wir vermittels unseres tieferen Wesens, des überindividuellen Gebietes unserer Seele, mit dem Urgrunde alles Seienden im Zusammenhang. Es verhält sich aber so, weil "der Gegenstand der Erkenntnis, vom metaphysischen Standpunkte aus betrachtet, nichts anderes ist, als das Subjekt selbst in erstarrter Form" ("Grundlagen der Geistesphilosophie", Prag 1922, 12). Sein Intuitivismus ist idealistisch, seine Metaphysik der Erkenntnis gründet er auf den Begriff des schöpferischen Subjektes, welcher zum grössten Teil ausserhalb der bewussten Sphäre liegt, mit dem aber das Bewusstsein trotzdem verschmelzen kann, indem es die "kopernikanische Wendung" vollbringt, d. h. indem es von der Mannigfaltigkeit des subjektiven, besonders gefühlsmässigen Erlebens, seinen Ausgang nimmt und die Verführung ablehnt, den Geist und die Natur vom Standpunkte der quantitativen, identifizierenden Naturwissenschaft, die alles rein Qualitative aus dem Weltbilde ausscheiden möchte, aufzufassen und zu erklären. (Hoppe wurde vielfach von der zeitgenössischen; sogenannten Kritik der Wissenschaft angeregt, insbesondere hat E. Mayersons Kausalismus auf ihn einen starken Einfluss ausgeübt). Die Welt der Vernunft und der Wissenschaft bedeutet einen toten, nivellisierenden Aspekt der lebendigen, fliessenden Wirklichkeit, sie stellt nur "ihre hohlen Schalen und Bestecke" dar; erst die irrationalen Akte der Intuition und der Kontemplation ermöglichen uns, jener vorübergehend, dieser methodisch und definitiv, den Plan der Sinnlichkeit zu überschreiten; die Verstandesbegriffe sind ja überhaupt nur "ursprüngliche erblasste, erloschene Gefühle" und sind somit durch ursptüngliche Intuitionen gerechtfertigt ("Einführung in die intuitive und kontemplative Philosophie"). Im Akte der Intuition erfassen wir das Individuelle eines Wirklichen, sein tiefstes Wesen; in der Kontemplation streifen wir alles Sinnliche ab und werden zu Gliedern einer gestigen Weltordnung. Hoppe hat diesen Standpunkt in zwei umfassenden Werden zu entwickeln und zu begründen versucht: "Natürliche und geistige Grundlagen der Welt und des Lebens", (Prag 1925), u. "Einführung in die intuitive und kontemplative Philosophie", (1928). In dem ersten wird das "transzendentale Gebiet der Persönlichkeit", die Quelle des Seinsollenden, in dem alles Seiende ursprünglich steckt, untersucht und an der Hand eines reichen Materials von Belegen der mystische Weg der Reinigung, Erleuchtung und Verschmelzung, auf dem man die dauernde Vereinigung mit jenem absoluten Gebiete erlangt, beschrieben. Im zweiten Werke unternimmt Hoppe eine erkenntnistheoretischmetaphysische Grundlegung und Verteidigung seiner Ansichten denen gegenüber, die mit anderen Mitteln das gleiche Zeil, nämlich die Versöhnung des Absoluten mit dem Relativen verfolgen. In beiden Arbeiten geht er von Kant aus, macht ihm aber seinen übertrie enen Rationalismus zum Vorwurf, der ihn gehindert hat zu erkennen, dass das Ich der transzendentalen Apperzeption den intuitiven und kontemplatioven Akten in seinem schöpferischen Wesen zugänglich ist. Das von Hoppe angestrebte System beruht im Ganzen auf einer psychologischen Basis, die logischen und zum grossen Teil auch die erkenntnistheoretischen Probleme werden zu rasch übergangen; es wirkt deshalb als ein sehr edles Bekenntnis eines Philosophen. Vielleicht war es nicht einmal Hoppes Ziel, ein genau durchgearbeitetes System der Metaphysik zu schaffen, sondern vielmehr dem Menschen eine Methode der Lebensführung zu geben, die imstande wäre, ihn aus der Gedeutungslosigkeit seiner naturhaften Existenz zu erheben. Welcher Kontrast besteht zwischen Rádl und Hoppe, obwohl sie beide übernatürliche Prinzipien anerkennen! Hoppe verliert sich darin, wogegen sie für Rádl zu Normen des planmässigen Handelns in dieser Welt werden.
In den Arbeiten Rádls und Hoppes ist die Befreiung aus positivistischer Gebundenheit auch darin ersichtlich, dass sie die Geschichte der Philosophie nicht mehr als eine bunte Sammlung von Irrlehren auffassen, sondern oft auf ältere Problemstellungen zurückgreifen, die sie als nicht überwunden nachweisen. Aber es fehlt ihnen die feste, logische Armatur, die aus einzelnen Eingebungen ein ganzheitliches Gefüge entstehen lassen könnte. Zwar kann sich Rádl vielfach auf Drieschs Arbeiten stützen3, man weiss aber nicht immer genau, wo sich ihre Wege scheiden. Zu derselben Zeit hat sich um eine selbständige philosophische Überzeugung ein anders gearteter Denker bemüht, der Mathematiker K. Vorovka (1880-1929), welcher schon im J. 1917, von Poincaré angeregt, eine intuitionistische Grundlegung der Mathematik zu liefern unternommen hatte. Rádls Schriften setzen gewöhnlich eine Reihe lebendiger Gedanken über ein gewisses Thema auseinander; Vorovka bemüht sich dagegen um den strengen, logisch-systematischen Zusammenhang4; er möchte in seiner Schrift "Skepsis und Gnosis (Prag 1921) den Positivismus logisch überwinden, obwohl er die Notwendigkeit der Glaubenstat anerkennt. Diesen Mut zum Glauben, der allein die Skepsis vollständig beseitigen kann, wird von Vorovka "die Gnosis" genannt. Man darf sagen, dass Vorovka der einzige unter den tschechischen Philosophen dieses Zeitraumes war, in welchem vor allem das logische Gewissen lebendig war. Sein Programm war vom Problem der Gewissheit und Wahrheit ausgefüllt. Rádl z. B. hat nicht die Notwendigkeit empfunden, die Skepsis zu bekämpfen: es hat ihm nie an Prinzipien gemangelt, denen er ein kritisches Vertrauen schenken konnte. Bei Vorovka handelt es sich aber um die absolute Gewissheit, er bedient sich fortgehend der skeptischen Methode, um seine Voraussetzungen zu prüfen und jeden Zweifel zu beheben. Ich glaube, dass bei Vorovka, wenn wir von der rhetorischen Form einiger seiner Schriften abstrahieren, viel mehr philosophisch Wertvolles übrig bleibt, als manche zuzugeben geneit sind. Der rhetorische Ballast war ihm im Grunde fremd; er zollte damit der erregten Stimmung der Zeit, sowie der Begeisterung für die Mystik Březinas seinen Tribut. Vorovka philosophiert nicht nur, um sich von dieser Welt zu erlösen, sondern er löst die Aufgabe, dem Menschen den Zutritt zur Wahrheit sicherzustellen. Wenn er den Boden der Metaphysik betritt, so geschieht es also aus ganz anderen Gründen als bei Rádl oder bei Hoppe; er glaubt nämlich, dass ein Reich der reinen Essenzen angenommen werden muss, wenn man die Eigenart der logischen und mathematischen Erkenntnisse begreifen und diese über alle Zweifel erheben will. Zweitens will er aber den Sinn des Lebens begreifen und findet ihn in der Schönheit, welche die Werke der unaufhörlich schöpferischen und freien Weltprinzipien durchstrahlt. Vorovkas Metaphysik ist dem Neuplatonismus und Gnostizismus verwandt. Die Welt der Essenzen steht, als unerschöpfliches Reservoir der Formen, über der Existenz, die ihr "entspringt" und restlos psychischer Natur ist - der persönliche Gott, die Monaden und das "psychische Feld", das alle Erzeugnisse der lebendigen Wesen in sich aufnimmt und ihre Wechselwirkungen ermöglicht. Das psychische Feld ist das Bewusstsein Gottes. In diesem Punkte weicht Vorovka von Leibniz, dessen Weltanschauung er am nächsten steht, ab; übrigens hat er niemals abgelassen, Leibniz immer wachsende Bedeutung für die Gegenwart hervorzuheben und in seiner Schrift "Kants Philosophie in ihren Beziehungen zu den exakten Wissenschaften" (Prag 1924), schätzt er Leibniz höher als Kant. Die Schrift zeugt übrigens davon, dass Vorovka alle Seiten seiner Metaphysik nicht gleichermassen befriedigt haben; vom Panpsychismus wird hier überhaupt nicht gesprochen, aber die Lehre vom logischen Universum wird oft erwähnt. Endlich in der Schrift "Die Amerikanische Philosophie", (Prag 1928), klingt wieder stark die skeptische Saite; es wird von einer wissenschaftlichen Philosophie gesprochen, deren Resultate lediglich negativ sind (z. B. die Ablehnung des Naturalismus). Man kann nicht sagen, dass Vorovka alle seine philosophischen Pläne wenigstens vorgezeichnet hat; jedenfalls kann seine Metaphysik als eine Andeutung aufgefasstwerden, denn um wirklich ausgeführt zu werden, müsste sie auf eine breite logische und erkenntnistheoretische Grundlage gestellt werden: eine Aufgabe, zu welcher er sich nicht entschlossen hat und die trotzdem allein vermöchte, dem ganzen Bekenntnis objektiven Wert zu verleihen. Der reine Logizismus, besonders in der Fassung Russells, war ihm unannehmbar, er suchte in der von Leibniz angedeutete Richtung Platon mit Bergson zu versöhnen, kam aber nicht weit über die Formulierung des Problems hinaus.
Hoppe und Vorovka unterschieden sich von der tschechischen positivistischen und realistischen Tradition auch durch ihren Akademismus, ihr Fernbleiben vom öffentlichen Leben und ihre im grossen und ganzen konservative politische Haltung. Das hatte auch zur Folge, dass ihre Lehren wenig Beachtung fanden. Gewisse Anregungen hatten beide von dem führenden Physiologen Prof. F. Mareš (geb. 1857) empfangen, der bei Kant Zuflucht suchte um gewissen Fogerungen aus einer mechanistischen Weltanschauung auszuweichen. Ein Angehöriger der älteren Generation, unternahm er auch nach dem Kriege eine Reihe von philosophischen Exkursen, die nicht immer geglückt sind ("Wahrheit im Gefühl", "Die Wahrheit über die Wirklichkeit", 1918). Insbesondere bekämpfte er mit Eifer Krejčís "Psychologie ohne Seele", und es ist sicher seinem Einfluss zuzuschreiben, wenn der Positivismus oft als mechanistische Psychologie angesehen wurde. Es gibt noch anderescharfe Kritiker des Positivismus, von denen manche aber bis jetzt nicht dazu gelangt sind, einen persönlichen positiven Ausdruck für ihre Anschauungen zu finden.
Zu ihnen gehört etwa F. Pelikán (geb. 1885), der gemeinsam mit F. Žakavec Bergsons "Évolution créatrice" übersetzt und ihr eine einleitende Studie beigegeben hat, wie er denn überhaupt als guter Kenner der französischen Philosophie gilt, der sich aber zugleich an Fichte und am Pragmatismus (bes. James und Schiller) inspiriert hat. Im Sinne des Pragmatismus hat er eine sehr knappe Übersicht der formalen Logik geschrieben. Vornehmlich aber betreibt er historische Studien, wozu auch seine umfangrechste Arbeit "Der Fiktionalismus in der modernen Philosophie", insbesondere bei Hume und Kant (1928) gehört, worin er zu beweisen sucht, dass der moderne Skeptizismus seinen Ursprung in der Nichtbeachtung der emotionalen und affektiven Grundlage der menschlichen Persönlichkeit habe. So wendet sich auch Pelikán dem Irrationalismus zu, mit dem im tschechischen Milieu in der Regel die Abkehr vom Positivismus ihren Anfang nimmt.
Der gleichen Reihe von Denkern schliesst sich auch J. L. Fischer (geb. 1894) an, der seinen ursprünglischen Pragmatismus, an dem ihn vor allem die Lehre von der Plastizität und Formbarkeit der Wirklichkeit angezogen hatte, aufgibt, um zu einem "System der konstruktiven Philosophie" überzugehen. Den ersten Teil hat er im Jahre 1931 unter dem Titel "Grundlagen der Erkenntnis" herausgegeben. Das Programm dieser Philosophie ist in der Broschüre "Über die Zukunft der europäischen Kultur" (1929) skizziert. Der Mechanismus, der seit dem 17. Jahrhundert den Bereich unseres kulturellen Umkreises beherrscht hatte, wird jetzt durch einen Soziologismus ersetzt. Das geschieht mit Hilfe einer "ebenso einfachen, wie evidenten Überlegung", nämlich "sofern unsere begrenzten Erkenntnismittel nur noch ausreichen, um winzige Bruchstücke des mannigfaltigen Reichtums der Wirklichkeit zu fassen, werden wir diesem Reichtum der Formen und dieser Verwobenheit der Beziehungen viel eher gerecht, wenn wir sie mittels der höchsten uns noch zugänglichen und dabei nächsten Erscheinungen vorgehen" - wir erhalten so anstatt eines Mechanismus eine vermenschlichte Welt. Fischers Standpunkt ist dabei wiederum metaphysisch und involviert ein Bekenntnis: "so bin ich dagegen überzeugt, dass das Ganze der Wirklichkeit zu jeder Zeit unfertig und unvollkommen ist und immer nach neuen Sinngebungen und Sinnverwirklichungen trachtet." Die "schöpferische Wirklichkeit" soll auch hier ein Universalmittel gegen den Positivismus sein, wobei aber die Überzeugung von ihr hypothetisch bleibt. Was Fischer überdies in seinen "Grundlagen der Erkenntnis" gibt, ist kein Fortschritt. Es ist Psychologie, aber keine Erkenntnistheorie und dazu noch eine Psychologie, die mit Hilfe von unzureichend klaren Begriffen konstruiert ist. Der Begriff Intention wird z. B. auf eine seltsame Weise gefasst, und es bleibt zuletzt unverständlich, wie Fischer vom Subjektivismus zu einem kritischen Realismus gelangt. Wir haben hier wiederum eine erkenntnistheoretische "Überzeugung" vor uns.
Bleibt die Formulierung der Arbeiten Pelikáns und Fischers im grossen und ganzen im Bereich des Fachgemässen, so begegnen wir in T. Trnka (geb. 1890) und L. Klíma philosophischen Geistern, die ihr dichterisch gestimmtes Erleben in ausgesprochen literarischen Formen, in Essays und Aphorismen gestalten. Trnka steht besonders in seinem umfangreichsten Buch "Der Mensch und sein Werk" (1926) unter dem Einfluss des Dichters Otokar Březina (1868-1929) und seiner dithyrambischen Mystik mit ihrem Glauben an den schöpferischen Menschen, den geheimen Sinn des Daseins und die erlöserische Funktion des lebenentsprossenen Werkes. Auch Trnka ist vom Irrationalismus, von der pragmatischen Negation des Dualismus von Subjekt und Objekt ausgegangen, hat seine Gedankendänge durch Bergson befruchten lassen, der ihm die Antithese Zeit und Raum als Thema stellte und ist schliesslich zur differentiellen Psychologie und Charakterologie gelangt. Nimmt man seine Beschäftigung mit Kulturpsychologie und personalistischer Philosophie hinzu, so kommt eine bunte Erudition zusammen, der sich Trnka jedoch nicht immer kritisch zu bedienen weiss, wenn er etwa in Kant einen unvollkommenen Anlauf zum Pragmatismus sieht oder behauptet, dass bei Dilthey der Weltanschauungstypus - physiologisch gegeben sei. N. Losskij hat ihn denn auch in seinem Artikel "Zehn Jahre tschechischer Philosophie" (RF. 1929) als "Denker von aussergewöhnlicher Beweglichkeit des Denkens" gekennzeichnet.
Bedeutet für Rádl Philosophie eine wissenschaftliche Methode der Behandlung allgemeiner Fragen, für Vorovka systematische Gnosis, für Hoppe die Deutung des Sinnes der Welt und des Lebens, zu der man durch theoretische aber auch praktische Vorbereitung gelangt, so ist sie für Trnka "spontan formulierte Lebensweisheit". Er kennt in diesem Sinne keine fachgemäss konzipierten Fragen, er stellt keine Untersuchungen über Philosophie als Lebensberuf oder sittliche Aufgabe an, sondern begnügt sich mit geistreichen Betrachtungen über Tatsachen und Gedanken. Versucht er sich an Problemen der Erkenntnistheorie, so berührt er nur selten konkrete Probleme, dafür verbreitet er sich über allgemeine Merkmale der verschiedenen systeme, etwa des Fiktionalismus Vaihingers, des Pragmatismus, des Kantismus, des Bergsonismus ("Die moderne Philosophie in der Sackgasse", 1929). Als typisches Beispielwäre etwa zu zitieren ("Wege der Philosophie und Wissenschaft", 1919): "An der Wiege des Problem stehen Staunen und Entsetsen. Das wissenschaftliche Problems stehen Staunen und Entsetzen. Das wissenschaftliche Problem und das Problem überhaupt entsteht in der Seele des Menschen unter dem Einfluss, der Berührung des Erstaunens und der Überraschung. Das Rätsel eines wissenschaftlichen Problems ist ein kreisender Wirbel... das Problem ist das Staunen über Gegensätze." Über ein konkretes Problem wird dann aber nicht gesprochen, und es ist verständlich,dass die Mathematik bei solchen Voraussetzungen überhaupt keine Wissenschaft ist. "Die Mathematik ist einzig und allein Methode und keine Wissenschaft. Wissenschaft bedeutet Zusammenfassung, Zusammenfassung von Problemen und Methode, hier aber handelt es sich um kein Problem, sondern einzig und allein um die Methode, den logischen Fortgang. Darum war auch die Mathematik in jener zeit (d. h. im 17. Jahrhundert) die ideale Wissenschaft, die Wissenschaft der Wissenschaften, obwohl sie überhaupt keine Wissenschaft, sondern nur die Verwirklichung der logischen Methode ist."
Wenn er über die Psychologie des schöpferischen Typus schreibt, so genügt es ihm, zum Beweis seiner These vom zweifachen, d. i. vom räumlichen und zeitlichen Typus die Dichotomien Schillers, Poincarés, James', Kretschmers usw. zu zitieren, ohne sich weiter damit zu mühen, zu beweisen, dass und wie sie sich decken. Zwar lockt ihn die Metaphysik, aber eher mit dem, was geheimnisvoll an namentlich im Hinblick auf den Sinn seines Handelns.
Die Philosophie ist keine blosse positive Wissenschaft, es gibt in ihr Probleme, denen sie nicht ausweichen kann und die doch, um mit N. Hartmann zu reden, "nur behandelt, nicht gelöst werden". Aber es kommt darauf an, dass die Philosophie auf einem möglichst sicheren Grunde baut, dass sie mit genauen Begriffen und mit genauen Gedankengängen arbeitet. Sie muss trachten, über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen zu können und mit einem Minimum von Metaphysik auszukommen (nach Hartmann). Der Philosoph hat die Pflicht, aus seinen Rhesen alle Folgerungen zu ziehen, zu Ende zu denken, so weit als möglich systematisch zu konstruiren, um den Sinn seiner Behauptungen und Thesen in ein genaues und klares Licht zu stellen. Die Logik als Wissenschaft des präzisen Fortganges der Gedanken wird so zum Ausgangspunkt der Philosophie. Die tschechischen Antiposotivisten waren aber mit dieser Sachlage nicht einverstanden. Ihnen ging es um ein rein persönliches Verhältnis zu den Dingen und zur Welt, nach dem Vorgang des Dichters und überhaupt des Künstlers, um einen tiefen persönlichen Ausdruck, der das ganze eigene Wesen und darin vielleicht das Wesen der Welt erschliesst. Dieses Postulat ist auch dem jüngeren Rádl, Hoppe, Trnka, Klíma u. a. gemeinsam. Die Behutsamkeit, mit der sie vorgehen, ist freilich von Fall zu fall verschieden, aber alle streben vor allem danach, auszusagen, was der Grund ihrer Seele birgt und erblicken darin die richtige Methode. Es ist verständlich, dass der Positivismus unter diesen Bedingungen bei allen, die durch die Schule des wissenschaftlichen Denkens hindurchgegangen sind und alle übrigen geistigen Bedürfnisse der Sphäre der Träume und Zerstreuungen zuweisen, an Bedeutung gewinnt. Unter den jungen Philosophen gibt es eine starke Gruppe von Positivisten, die sich um die Zeitschrift "Čin" (Die Tat) schart. Ihr Positivismus deckt sich jedoch kaum mit dem älteren Positivismus Krejčís mit seinen Spinozischen Perspektiven. Es scheint, dass auch er im Stadium einer Färung begriffen ist. Auch hier aber handelt es sich eher um eine kräftige, wohlbegründete Überzeugung, als um die Anbahnung einer neuen Systematik. Es gibt jedoch Fälle, in denen eine philosophische Konfession, eine aus subjektiven Erlebnissen hervorgegangene Weltanschauung immerhin zumindest den Wert eines persönlichen Dokumentes, einer Aufzeichnung tiefgreifender Lebens- und Denkenserfahrung hat, die der Philosophie bestimmte Fragen zu stellen geeignet ist. Dies haben Nietzsche, Tolstoj, Dostojevskij u. a. getan. Auch in der russischen Philosophie der Gegenwart begegnen wir einem solchen reichen, unsystematischen Denken. (Vgl. Losskij "Russkaja filosofija v XX veke", Belgrad 1930), etwa bei Berdjajev, Bulgakov, ja auch Karsavin. Das Schaffen dieser lebendigen Denker ist dabei unverhältnismässig bedeutsamer als das Philosophieren der genannten tschechischen Denker. Das beruht in der Verschiedenheit der Bildung der Persöhlichkeit und der traditionellen Problematik. Den russischen Denkern verleiht der tiefe, innige und wahrhaftige Zusammenhang mit der religiösen und theologischen Basis oft Bedeutung, ein Zusammenhang, der geistige Schätze aus Jahrtausenden in spezifischer Weise in ihnen aufleben lässt. Von den tschechischen Denkern ist Rádl eigentlich der einzige, der offene Augen für die Vergangenheit und Zukunft hat, der ebenso tief im modernen Humanismus wie im christlichen Supranaturalismus verwurzelt ist. Kozák und Vorovka schliessen sich ihm wenigstens ihren Intentionen nach an. Die übrigen fliehen allzu oft in das eigene Selbst oder in diechterische Weiten, wohin die Stimmen des lebendigen Tages kaum noch dringen. Wenn z. B. Hoppe oder Trnka die exakten Wissenschaften mit ihrem Anspruch, eine in ihrer Art vollkommene Erkenntnis zu liefern, ablehnen, so tun sie das bestimmt nur, um sich ihrer ein für allemal zu entledigen und um die Unruhe zu vermeiden, die diese Wissenschaften dem modernen Metaphysiker immer bringen werden. Davon zeugt, dass es ihnen genügt, den Szientismus zu kritisieren und dass im positiven Aufbau ihrer Anschauungen die exakten Wissenschaften keine Rolle spielen, obwohl sie sich damit befasst haben (besonders Hoppe). Wie durchaus anders nimmt sich dies bei Nietzsche oder Bergson aus. Oder Hoppes Pläne einer Lösung der sozialen Frage mit Hilfe der kontemplativen Methode ohne jedwede konkrete Analyse der tatsälichen Verhältnisse, ohne ein bestimmtes Programm für die Struktur der Gesellschaft der Zukunft - der blosse Einfall eines Tagtraumes. Von einem religiösen Leben, aus dem Denker emporwachsen könnten, kann man schwerlich etwas Bestimmtes sagen. Von J. L. Hromádka ist schon die Rede gewesen. Ansonsten ist protestantische Religionsphilosophie nicht lebendig genug. F. Linharts (geb. 1882) "Philosophie der Religion" (1930) vermag mit ihrer psychologischen Fundamentierung den Bau des christlichen Supranaturalismus nicht zu tragen. Der tschechische Katholozismus ist in philosophischer Hinsicht blutlos. Der fruchtbarste philosophiesch Schriftsteller aus den Reihen der Katholiken J. Kratochvíl (geb. 1882), der Autor zahlreicher geschichtlicher Abrisse und Einführungen in die Philosophie, schreibt trocken und eklektisch. Der Essayist R. J. Malý (geb. 1889) hat versucht, Teilnahme für die Philosophie Malebranches zu wecken, aber ohne Erfolg. Einen schargen Kritiker gibt es freilich, den Dichter und Essaisten Jaroslav Durych (geb. 1886), der ohne Unterlass seinen absoluten Maßstab an die kleinen tscheichischen Verhältnisse anlegt und überhaupt die Hoffnung des tschechischen Katholizismus im Bereich geistigen Lebens ist. Alle genannten Philosophen sind durch ide gemeinsame Tendenz gekennzeichnet, den Positivismus in der Richtung auf einen Theismus oder zumindest einen Ethizismus zu überwinden (Trnka). Gott aber ist, sofern er nicht wie bei Klíma zu einem allmächtigen Ich reduziert wird, bei fast allen von ihnen allzu abstrakt aufgefasst, allzu sehr blosse Reminiszenz eines wahrhaften, erschütternden Gotterlebnisses, von dem das mittelalterliche Denken - auch das tschechische - erfüllt ist.
Bergreiflicherweise ist die Lage der heutigen tschechischen Philosophie auch durch eine lange Reihe von Kontroversen und Polemiken gekennzeichnet, die zwischen Positivisten und Realisten und der Vertretern der sonstigen Richtungen stattgefunden haben und stattfinden.
Gegen die positivistische "Česká Mysl" begann Pelikán zusammen mit Vorovka, Hoppe und anderen im Jahre 1920 die Zeitschrift "Ruch Filosofický" herauszugeben. Die Diskussion war durch Rádls Artikel in der "Realistická Stráž", 1921, begonnen worden, zwei Jahre später gab Rádl diese Artikel mit Ergänzungen in der schon erwähnten Broschüre "Über unsere heutige Philosophie" heraus, Vorovka, Trnka, E. Čapek, Pelikán haben damals geantwortet. Krejčí meldete sich mit einem "Blick auf den gegenwärtigen Stand der Philosophie in Böhmen" in den "Verhandlungen der Königl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften" zum Wort. Vorovka hat seine polemischen Artikel in einem Bande "Polemos" (1926) gesammelt. Auch Klíma hatte in den Kampf der Meinungen eingegriffen. Rádl hatte den Jüngeren ihre papierene Philosophie, ihre Entfernung vom konkreten Leben und seinen Problemen, sowie ihre Nichtbeachtung der einheimischen philosophischen Tradition zum Vorwurf gemacht. Am besten hatte sich Vorovka zu verteidigen verstanden. Es fiel ihm nicht schwer, in den Argumenten der Gegner Stellen nachzuweisen, die einen Mangel an hinreichender Information verrieten. Er bewies in dem Streit guten Willen, arglose und aufrichtige gesinnung. Zu einer entscheidenden Klärung haben alle diese Polemiken aber nicht geführt, wohl aber die Situation grell beleuchtet. Wer heute im tschechischen Milieu den Bereich der Philosophie betritt, findet schwer einen zuverlässigen Ausgangspunkt. Der Positivismus gefällt sich allzusehr in abstrakten Darlegungen (wie wenig Mannigfaltigkeit gibt z. B. Krejčís Psychologie, verglichen etwa mit Ribot). Im übrigen aber gewinnt man den Eindruck, dass es an einer gründlichen Durcharbeitung der zentralen Fragestellungen gebricht, so dass ein labiler Zustand herrscht, aus dem man nur mühselig zu einem Gleichgewicht zu gelangen sicht. Dabei ist Interesse für philosophische Themen forhanden, wie durch die Menge von Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie bewiesen wird, die im Lauf der letzten zehn Jahre erschienen sind. Auch sind in den letzen Jahren einige erkenntnistheoretische Arbeiten zu verzeichnen. Ausser den "Wahrheitstheorien" (1929) von Prof. Tvrdý ist insbesondere L. Riegers Untersuchung "Das Problem der Wirklichkeitserkenntnis" (1930) zu nennen, wo der kritische Realismus der Fries'schen Schule durch psychologische Argumente gestützt wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit von L. Dratvová "Der Begriff der Kausalität in der Physik" (1931) zu stellen.
Freilich gibt es eine Richtung der philosophischen Forschungsarbeit, die zur Zeit ausschliesslich von Juristen und Nationalökonomen geleistet wird. Da sie nächstens an dieser Stelle in einem besonderen Artikel von einem ihrer Repräsentanten, dem Brünner Professor J. Kallab behandelt werden soll, wird hier von einer Darstellung abgesehen.



1 Tschechische philosophische Zeitschriften: ČM = Česká Mysl (Der tschechische Gedanke), RF = Ruch Filosofický (Die philosophische Bewegung).
2 Welche grossen, ungelösten Probleme entspringen z. B. dem Verhältnis von Gelten und Sein! Wird nicht erst jetzt das erkenntnistheoretische Problem als das Problem des gültigen Urteils aufgerollt werden können? Wie wird es nun um die Wirklichkeit der Wissenschaften stehen? - Die Probleme des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, des Wahrheitskriteriums des christlichen Dogmas, werden auch nicht überzeugend gelöst, wie Smetáček l. c. und ČM 1931, 143 f. zeigt.
3 Das verhältnismässig rege Interesse an Drieschs Philosophie bei den tschechischen Philosophen ist zweifellos dem einflusse Rádls zuzuschreiben.
4 Vgl. Lapšin, Der russische Gedanke, 1930, S. 88: "er war ein wahrhaft ernster und strenger Denker". Lapšin analysiert in diesem Artikel Vorovkas Philosophie sehr ausführlich und vergleicht sie mit den Lehren des russischen Philosophen Vl. Solov'ev, Lesevič u. a.

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Citace
Jan Patočka and Přeložil F. Karfík. Die tschechische Philosophie seit 1918. In: Jan Patočka - repository. [cit. March 29, 2024].
Dostupné z https://archiv.janpatocka.cz/items/show/83 .
URI: https://archiv.janpatocka.cz/items/show/83 .
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